Fenster

Das Fenster – ein Tor zur Welt

Auf meinem täglichen Schulweg kam ich immer an einem Mehrfamilienhaus vorbei. Die kahle Fassade hatte etwas trostloses. Insgesamt wirkte das Haus, als sei alles an ihm irgendwie überholt und verlassen. Der Gedanke der Verlassenheit kam mir auch bei dem Mann, der Tag für Tag gestützt auf ein besticktes Kissen, welches halb auf dem Fensterrahmen halb auf dem Fensterbrett platziert war, am offenen Fenster saß und seine Umgebung – und damit zu gegebenen Zeiten auch mich – musterte und ab und an mal mehr mal weniger verständliche Sätze brabbelte. Ich hatte immer ein komisches Gefühl, wenn ich unter seiner murmelnden Beobachtung an seinem Fenster vorbei ging. Manchmal brachte ich ein gequältes „Guten Tag“ hervor. Weniger aus Höflichkeit als mehr aus dem Grunde einen kurzen Blick ins Innere seiner Wohnung erhaschen zu können. Meine Gedanken zur äußeren Ansicht des Hauses wurden hier bestätigt: Es handelte sich um eine grünliche, gemusterte Tapete. Ich sah einen Teil eines dunkelbraunen Holzschrankes. An der Wand hingen ein paar kleinere Rahmen, deren Bilder ich nicht erkennen konnte. Jedenfalls entsprach dieser Ausschnitt des Zimmers meinem damaligen Bild einer Wohnung, die ein Mensch bewohnt, der schon seit längerer Zeit aufgehört hat, aktiv am Leben teilzunehmen. Dem Unbehagen, das ich beim Vorbeigehen fühlte, mischte sich manchmal eine Art Mitleid bei. Der Mann machte allerdings nicht den Eindruck, als ginge es ihm schlecht oder als fühle er sich verlassen. Eher schien es, als sei er der Meinung, von einer höheren Aufgabe beseelt, alles, was sich vor seinem Fenster abspielte, genauestens zu beobachten. Er saß in seiner sicheren Kommandozentrale , von der aus er sich – teilweise kommentierend – die Welt und einen kurzen Ausschnitt der Leben der Passanten aneignete. So möchte ich niemals sein, dachte ich immer.

Kürzlich stieß ich in einem Artikel auf einen Abschnitt, in dem es um das Fenster als das Tor zu Welt ging. Ich dachte an den schrulligen Mann auf meinem früheren Schulweg. Gleichzeitig beschäftigte mich der Ausdruck „Tor zur Welt“. Das Fenster war für diesen Mann wirklich das Tor zur Welt. Bei dem im Artikel zitierten Buch handelte es sich um „Florenz und Bagdad“ von Hans Belting. In dem kunstgeschichtlichen Werk geht es um die Geschichte des Blicks, wobei Belting zwischen der arabischen Geschichte des Sehens und der abendländischen Bildgeschichte unterscheidet (die Angemessenheit oder Richtigkeit seiner Thesen soll hier nicht weitere Betrachtung finden). Es geht hauptsächlich um Fenster als Metaphern für Gemälde der Renaissance. In einem Abschnitt beschäftigt sich der Autor allerdings auch mit der Funktion des Fensters in der westlichen und der arabischen Kultur. „Ein Fenster“, beschreibt Belting, „erlaubt dem Betrachter, mit seinem Körper «hier» zu sein und zugleich körperlos «dorthin» zu gelangen, wohin nur ein Blick gelangen kann.“1. So gibt es ein hier und ein dort, ein Außen und ein Innen. Das Außen ist ohne physische Bewegung vom inneren Standpunkt aus zumindest in Teilen erfahrbar. Genau um diesen Unterschied zwischen der Bedeutung von Außen und Innen geht es ihm bei der Differenz zwischen dem Fenster in der westlichen und der arabisch-islamischen Architektur. In der westlichen Kultur dient ein Fenster dazu, um aus ihm heraus zu blicken – wie es der Mann aus meiner Kindheit tat, um einen Blick auf die Welt zu werfen. Ein Tor zur Welt also. In der arabisch-islamischen Kultur verhält es sich Belting zufolge etwas anders: Fenster sind vielfach ornamentalisch vergittert. Damit ist es primär das Licht, das von außen nach innen dringt.2 Bei der Architektur der Fenster geht es erst einmal um die Inszenierung des sich eigentlich draußen befindlichen Lichts im Wohnraum, was die Aufmerksamkeit der Bewohner auf sich zieht. Das Äußere wird im Inneren reflektiert. So bedarf es nicht einmal des Blicks nach draußen, um die Welt wahrzunehmen.3 Das Gitter hat zudem die Funktion, eine klare Trennung von Innen und Außen vorzunehmen, was auch eine deutliche Trennung von Öffentlichem und Privatem impliziert: Die Bewohner können im Regelfall heraus-, Passanten im Gegenzug allerdings schlecht hineinschauen.4 Beltings Argumentation erfolgt gewiss vor einem anderen Hintergrund, doch fand ich die Überlegung dennoch interessant, angewendet auf das, was wohl viele industriegesellschaftlich geprägte Menschen auf die Frage nach einem zeitgenössischen Tor zur Welt antworteten. Das Tor zur Welt ist für eine große Anzahl von uns nicht mehr das Fenster, was nur einen minimalen Eindruck von der uns umgebenden Welt preisgibt, sondern das Internet – oder das Web 2.0 mit seinem enormen Möglichkeitsspektrum (des Voyeurismus?). Mit Blick auf das Internet scheinen die zwei Fensterbegriffe von Belting gar nicht so verschieden. Das Internet beinhaltet Charakteristika beider Formen.

Angefangen bei dem Instrument, welches den Zugang zum World Wide Web ermöglicht, sei gesagt, dass die Benutzeroberflächen einzelner Computerprogramme nicht umsonst Fenster genannt werden. Anders allerdings als bei realen Fenstern, wo man sich physisch von der Stelle bewegen muss, will man durch ein anderes Fenster im Haus einen anderen Ausschnitt der Welt betrachten, reichen zwei Klicks am Computer, um ein neues Fenster und damit eine neue Umgebung erscheinen zu lassen. Öffnet man ein Fenster des Internet-Browsers, breitet sich vor den Augen eine virtuelle Welt aus. Das Internet ermöglicht die Aneignung dieser virtuellen Welt – und sogar der gemeinhin als real bezeichneten Welt dank Google-Earth, Google-Maps und Konsorten. Die Weiten der virtuellen Welt machen uns Informationen jeglicher Art aus der „Realität“ ersichtlich. Aktionen wie Bankabwicklungen, Einkäufe, sogar ein Vier-Augen-Gespräch, die früher die Bewegung zu entsprechenden Orten (und Menschen) bedeuteten, können durch das Öffnen eines Fensters am Computer bewerkstelligt werden. Bildlich gesehen ist das Computer-Fenster wirklich eher ein Tor oder eine Tür, durch die ich gehe und mich an verschiedenen Orten aufhalten kann. Es stellt sich allerdings auch die Frage, ob überhaupt – wie beim physisch greifbaren Fenster – wirklich noch von einem abgegrenzten Außen und Innen gesprochen werden kann. Lösen sich die Grenzen nicht vielmehr auf? In diesem Zusammenhang lässt sich der Bezug zum arabisch-islamischen Fenster herstellen. Durch das Gitter, das die klare Trennung von Außen und Innen manifestiert, kommt es zu einer ganz bestimmten Lichtreflexion. Das heiß,t die Betrachtung des Lichts im Inneren ist eine Projektion der Wirklichkeit im geschlossenen Raum. Beurteilt man die Fensterform nach dieser Logik, könnte gefolgert werden, dass die Trennung von Öffentlichem und Privaten gar nicht vergrößert wird, sondern verkleinert (jedenfalls unter Berücksichtigung nur einer Seite): Im Inneren wird ein Abbild der Außenwelt geschaffen. So kann auch das Internet verstanden werden. Wichtig ist allerdings, dass es sich nicht um die Wirklichkeit selbst, sondern um ein Abbild dieser handelt. Beim Internet kann durchaus genauso von einer Reflexion der Wirklichkeit gesprochen werden. Durch Kanäle wie Twitter ist ein enorm schneller Informationstransfer möglich. Informationen aus der „realen“ Welt werden in einer bestimmten Interpretation gefiltert an Dritte weitergegeben. Auch von Nachahmung kann gesprochen werden: Über Kommunikationsportale erfolgt ein Austausch, der die Face-to-Face-Interaktion – in einigen Fällen sogar überwiegend – ersetzt. Da ich in dem Sinne für mein Gegenüber nicht sichtbar bin, kann ich eine andere Rolle spielen, die ich aus meinem Erfahrungsschatz aus der „realen“ Welt modelliere. Im Grunde kann nicht davon ausgegangen werden, dass ich im Internet ich selbst bin, sondern wiederum auch nur ein Abbild meiner selbst. Wie das Gitter der arabisch-islamischen Fenster schafft das Internet Abbilder, Reflexe der Wirklichkeit. In diesem Sinne lässt sich durch das Internet-Fenster als Tor nur ein Abbild der Welt betreten, das sich die Menschen (nach ihren Vorstellungen) geschaffen haben. Einen völligen Ersatz der Wirklichkeit stellt es nicht dar.

Um noch einmal auf den Mann aus meiner Kindheit einzugehen: So wie er, wollte ich nie sein. Wenn ich nun allerdings darüber nachdenke, wie viel Zeit des Tages ich oftmals vor dem Computer verbringe, so kommt es dem eigentlich recht nahe, was jener Mann täglich praktiziert hat. Ob trotz der größeren Aktionsmöglichkeiten im Internet die Zeit wirklich besser genutzt ist, als würde man längere Zeit des Tages am Fenster sitzen und in die Welt hinausschauen, sei dahingestellt – vom Thema der Einsamkeit gar nicht erst zu reden.



1Belting, Hans (2009): Florenz und Bagdad: Eine westöstliche Geschichte des Blicks. München: Beck, S. 263.

2Vgl. ebd. S. 274.

3Vgl. ebd.

4Vgl. ebd.

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