Augmented Reality

Seit einigen Jahren sind Augmented Reality Systeme auf dem Massenmarkt erhältlich. Als Software für Smartphones sind sie in den einschlägigen App-Stores erhältlich und reichern die Realität ihrer NutzerInnen mit Informationen aus dem Cyberspace an. [1]
In diesem Beitrag soll ein kurzer Abriss über die Entwicklung und die Funktion von Augmented Reality Systemen gegeben werden, um im Anschluss einige ihrer kulturellen Implikationen zu diskutieren.
Als erster Vorläufer von Augmented Reality Systemen gilt Ivan Sutherlands Head-Mounted-Display (kurz: HMD) aus dem Jahr 1968 (vgl. Abb. 1). Ein virtueller, dreidimensionaler Drahtgitter Kubus wurde beim Blick durch das Gerät im realen Raum dargestellt. Die technische Apparatur des HMDs erfasste dabei den Betrachtungswinkel und errechnete die entsprechende Darstellung des Kubus, der sich gemäß den Regeln des realen Raums in Echtzeit veränderte (vgl. Dinkla 1997: 60).
Sutherlands HMD erfüllt dabei drei Kriterien einer späteren, etwas schwammigen Definition von Augmented Reality (vgl. Azuma: 1997: 2), die hier dennoch angeführt werden soll, um den Begriff etwas zu erläutern.
Augmented Reality beschreibt die Überlagerung (bzw. Erweiterung) der physischen Welt mit virtuellen Objekten in einer realen 3D-Umgebung. Diese Überlagerung kann prinzipiell auf allen Wahrnehmungskanälen geschehen, sei es visuell, auditorisch, haptisch oder olfaktorisch. Sie geschieht interaktiv und in Echtzeit, um eine möglichst nahtlose Verknüpfung von virtueller und physischer Welt zu gewährleisten. Echtzeit wird dabei häufig zum technischen Problem, da es eine hohe Rechenleistung erfordert virtuelle Objekte ohne Latenz im physischen Raum darzustellen. Sutherlands Arbeit stellte deshalb auch nur ein einfaches Drahtgitter-Modell dar, welches mit der damals verfügbaren Technik eben schnell genug zu berechnen war. Ferner sind die virtuellen Objekte bei Augmented Reality Systemen im 3D Raum verortet, also an der dreidimensionalen Realität ausgerichtet.
Ein Augmented Reality System muss bestimmte technische Eigenschaften besitzen, um eine Überlagerung von physischer und virtueller Welt zu ermöglichen. Im Falle eines Mobiltelefons sind dies: GPS, zur Verortung der physischen Person im virtuellen Raum, ein mobiler Internetanschluss, der die Software mit Informationen versorgt, eine Art Kompass und Tracking Sensoren, die Auskunft darüber geben in welche Richtung das Telefon gehalten wird und eine Kamera, die die Realität – angereichert mit zusätzlichen Informationen – auf dem Display anzeigt.
Dass die nun in den App Stores verfügbaren Augmented Reality Systeme nicht neu sind und – ausgehend von Ivan Sutherlands Head Mounted Display – auf eine längere Entwicklungsgeschichte zurückblicken, ist bezeichnend für die generelle Verzögerung mit der technische Entwicklungen Einzug in den Konsumentenbereich halten. Ist es doch meist die (Rüstungs)Industrie, die zwecks Aufrüstung neue Technologien entwickelt oder als erste auf Entwicklungen der zivilen Forschung zurückgreift, welche dann erst später für kulturindustrielle Zwecke verwertbar gemacht werden. Man denke an die GPS-Technik in Navigationssystemen und Mobiltelefonen, die maßgeblich auf rüstungsindustrieller ‚Pionierarbeit’ beruht oder das militärische ARPA Net als Vorläufer des Internets.
„Der Krieg enthüllt auf unmittelbare Weise, dass jede Schlacht, jeder Konflikt ein Wahrnehmungsfeld ist. Das Schlachtfeld ist in allererster Linie ein Wahrnehmungsfeld. Voraussehen und wissen, dass der andere angreifen wird, sind die bestimmten Elemente des Überlebens. Im Krieg darf man nicht überrascht werden, denn wer sich überraschen lässt, ist tot.“ (Virilio 2011: 29)

So wurde die informationelle Erweiterung der Wahrnehmung durch Augmented Reality Technik vom US-Militär schon früh militärisch genutzt (zunächst in Kampfhubschraubern) und später vom Flugzeugbauer Boing einer industriellen Nutzung zugeführt (bei der Kabelverlegung in Boing Flugzeugen), [2] bevor sie Einzug in die spielerischen Applikationen für aktuelle Smartphones hielt.
Doch was hat diese Anreicherung unserer Wahrnehmung für Folgen? Was bedeutet es, wenn unsere Wahrnehmung in Echtzeit mit Informationen und Expertenwissen aus dem Internet angereichert wird? Paul Virilio, bei dem die Suche nach einer Antwort beginnen soll, postuliert:
„Es gibt keine Errungenschaft ohne Verlust. Es gibt keine technische Errungenschaft ohne Verlust im Bereich des Lebendigen, des Vitalen. Was für den auf nichts verringerten und reduzierten Raum gilt, gilt auch für das Gedächtnis. Man entwickelt zusätzliche Speicher, tote Gedächtnisse, die den lebendigen Speicher, das Gedächtnis des Menschen ergänzen aber auch ersetzen.“ (Virilio 2011: 61f)

Kolonisiert die Technik also den Körper des Prothesen-Menschen (vgl. Virilio 2011: 62)? Und wenn dem so ist, geht mit ihr ein Verschwinden menschlicher Erfahrung einher, wie Virilio es behauptet (vgl. Bühl 2000: 392; Lagaay/Lauer 2004: 22)?
Oder stellt Technik schlicht eine Ausweitung des Körpers dar, wie es der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan konstatiert, der Technik dabei grundsätzlich positiv gegenüber steht und in der Verbindung von Technik und Körper vielmehr eine Erweiterung des menschlichen Horizonts sieht als eine Entmenschlichung (vgl. Spahr/Kloock 1997: 51; Lagaay/Lauer 2004: 22).
Virilios und McLuhans Position zur Technik erscheinen zunächst gegensätzlich, weisen aber beide den gleichen Mangel auf: Sie tendieren dazu, soziales Verhalten und gesellschaftliche Entwicklung als direkte Folge der Technik zu denken. Dem Wesen der Technik wird dabei eine inhärente Fortschrittslogik (McLuhan) oder apokalyptische Tendenz (Virilio) zugeschrieben. Während McLuhans technikeuphorische Perspektive dabei Gefahr läuft, die politischen und sozialen Zusammenhänge zu verschleiern und den Nährboden für einen blinden Fortschrittsoptimismus zu liefern, eröffnet Virilios Kulturpessimismus zumindest noch eine Reihe kritischer Anschlussmöglichkeiten:
„Das Internet, der elektronische Datenverkehr und die großen Holdings, die sich darauf vorbereiten, die Globalisierung der Information zu verwalten, verwenden Millionen von Dollars dafür, ihre Produkte anzupreisen. Im Angesicht dessen kann ich mir nur die Maske der Kassandra überstreifen, um das versteckte Antlitz dieser Technik, ihrer Negativität, zu zeigen.“ (Virilio 2011: 60)

Die Distribution von Augmented Reality Systemen liegt in den Händen großer Konzerne, die Wissensdistribution mittels Augmented Reality Apps ist von der Wissensverwertungsindustrie bestimmt. Eine Nutzung dieser Systeme reichert unsere Wahrnehmung mit fremdbestimmten Informationen und Inhalten an. Die im Medien- und Netzdiskurs viel diskutierten Probleme der Manipulation und Kontrolle können im Hinblick auf Augmented Reality Apps also erneut aufgeworfen werden, zumal diese unmittelbar in die Wahrnehmung einzugreifen scheinen, wenn sie virtuelle Informationen direkt auf unsere Weltsicht mappen. Der Umweg über das Handy-Display scheint da nur ein Zwischenschritt zu sein, sind doch Brillen mit integriertem Display längst auf dem Weg und vernetzte Kontaktlinsen mit integriertem Schaltkreis Gegenstand der Forschung. [3] Diese Entwicklungen lassen dabei schnell Cyborg-Utopien bzw. -Dystopien aufkommen.
Wie kann man die Folgen von Augmented Reality Systeme aber denn nun einschätzen?
Fest steht: Digitale Systeme der Informationsverarbeitung und das Internet als Ort der Produktion, Distribution und Aneignung von Wissen sind nicht mehr wegzudenken. Ist es mit Hilfe von Google doch schon alltägliche Praxis, die eigene Wahrnehmung mit Expertenwissen anzureichern, erfolgt durch Augmented Reality Systeme eine weitere Automation im Finden von Wissen. Statt auf dem Computerbildschirm, werden online verfügbare Informationen nun in der Realität sichtbar. Die physische Welt wird mit dem Cyberspace vernetzt. Die Technik erkennt wohin wir schauen (bzw. das Handy halten), übernimmt für uns das ‚googlen’ und gibt einen Untertitel aus. Mit Untertiteln im Film verhält es sich in der Regel so: Gehörlosen und der Sprache Fremden verhelfen sie zum Verstehen, dabei lenken sie gleichzeitig vom eigentlichen Geschehen auf der Leinwand ab. Unterstellen Augmented Reality Systeme ihren NutzerInnen also einen Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit und Verständnis? Welchen Sinn hat eine technische Apparatur, die die Wahrnehmung technisch übersteigert? Und was hat das alles mit Fortschritt zu tun?

Lukas G.

Fußnoten

[1] Vgl. z.B. „Layar“: „Layar is a mobile platform for discovering information about the world around you. Using Augmented Reality (AR) technology, Layar displays digital information called ‚layers’ into your smartphone’s field of vision. See history come to life with layers like Architecture 3D and the Berlin Wall, view posts from Twitter pop up around you using Tweeps Around and even play interactive games with 3D objects in the ARcade layer.“ http://www.layar.com/ (29.03.11)
oder „Cyclopedia“: „Cyclopedia uses the iPhone camera, compass [...] and GPS together to create an augmented reality of the world by overlaying Wikipedia information over the viewfinder. By moving the iPhone around you will see articles pop up according to the direction you are pointing.“ http://itunes.apple.com/us/app/cyclopedia/id325227563?mt=8 (30.03.11).

[2] Vgl. zur militärischen Nutzung von AR-Systemen und deren Anwendung im zivielen Bereich: http://winfwiki.wi-fom.de/index.php/Militärische_Augmented_Reality_Systeme_und_deren_Anwendung_in_zivilen_Bereichen (29.03.11).

[3] Vgl. http://spectrum.ieee.org/biomedical/bionics/augmented-reality-in-a-contact-lens/0 (30.03.11).

Literatur

Azuma, Ronald T. (1997). A Survey of Augmented Reality. Hughes Research Laboratories.

Bühl, Achim (2000). Die virtuelle Gesellschaft des 21. jahrhunderts. Sozialer Wandel im digitalen Zeitalter. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Dinkla, Sönke (1997). Pioniere interaktiver Kunst. Ostfildern: ZKM Karlsruhe und Cantz Verlag.

Kloock, Daniela/Spahr, Angela (1997). Medientheorien. Eine Einführung. München: Fink.

Lagaay, Alice/Lauer, David (2004). Einleitung. Medientheorien aus philosophischer Sicht. In A. Lagaay & D. Lauer (Hg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung (S. 7-30). Frankfurt am Main: Campus.

Virilio, Paul (2011). Cyberwelt, die wissentlich schlimmste Politik. Ein Gespräch mit Philippe Petit. Berlin: Merve Verlag.

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