Crowdsourcing

"Welcome to the age of the crowd" Jeff Howe, Wired Magazine (2006)


Heute, 2011, immer noch vom Phänomen Internet zu sprechen, mutet lächerlich an. Längst gehören WWW und Web 2.0 zu unserem Alltag dazu; wie die Freundin, die nach und nach, ungefragt bei einem eingezogen ist. Erst bleibt nur die Zahnbürste im Badezimmer, dann die Tamponschachtel und schließlich findet man sich in pastellfarbener Bettwäsche wieder und hat es noch nicht mal gemerkt. Wann ich zum letzten Mal eine Tiefkühlpizza gegessen habe, weiß ich allerdings nicht mehr und meine Socken wechsle ich inzwischen jeden Tag. Eigentlich ist es ja auch ganz bequem mit ihr. Sie entscheidet das meiste, manchmal beschwere ich mich - aus Prinzip - aber im Großen und Ganzen bin ich entspannt. Wenn ich will, nehme ich eben einfach wieder alles selbst in die Hand. Oder… kann ich das überhaupt noch? Welches Passwort hatte sie noch mal für unser WLAN festgelegt, wo war gleich meine PCWorld-Sammlung geblieben? Verdammt, was ist hier eigentlich los?


Ja verdammt, WAS ist hier eigentlich los? Gut war es doch gemeint gewesen, als die Open Source Software Bewegung einen aus der Abhängigkeit von Microsoft und Co. befreite. Hilfreich war es, als man plötzlich online Erfahrungsberichte zu Hotels lesen konnte, bevor man Unsummen für ein getarntes Asbestparadies ausgab. Die Musik einer jeden Band konnte dank myspace mit einem Mal einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden. Auf ebay konnte man seinen potentiellen Flohmarktkram ohne das ätzende Rumgestehe loswerden und mit einem Klick auf Wikipedia war man schnell über die Granularsynthese informiert und konnte endlich mitreden. Langsam frage ich mich nun, ob das alles vielleicht erst die Zahnbürste war.


Gut gemeint war zum Beispiel auch Outsourcing: Produktionskosten gering halten, damit die Preise für die Konsumenten niedrig bleiben (Ja genau!).
Aber outsourcen ging auch ohne Internet, ohne Web 2.0. Neu in der digitalen Angebotspalette kapitalistischer Unternehmen ist nun Crowdsourcing.
Die Online-Enzyklopädie Wikipedia (da haben wir sie wieder) sagt dazu:
Crowdsourcing bezeichnet die Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen auf die Intelligenz und die Arbeitskraft einer Masse von Freizeitarbeitern im Internet. Eine Schar kostenloser oder gering bezahlter Amateure generiert Inhalte, löst diverse Aufgaben und Probleme oder ist an Forschungs- und Entwicklungsprojekten beteiligt
und stellt somit selbst eines der anschaulichsten Beispiele dieses neuen Managementkonzeptes dar. Begründer des Begriffs, dessen Verbreitung weiter voranschreitet, sind 2006 Jeff Howe und Mark Robinson vom Wired Magazine.

Waren die meisten der genannten Plattformen bei ihrer Entstehung dazu gedacht, die neue digitale Welt zum Vorteil ihrer Nutzer zu gestalten, so ist das Potential von Millionen von vernetzten Menschen, die in ihrer Freizeit freiwillig weiterarbeiten, inzwischen auch von der Wirtschaft erkannt wurden und wird seither entsprechend profitabel (aus-)genutzt. Denn hier ist sie: die neue Quelle billiger Arbeitskräfte.

Offiziell wird natürlich ganz im Sinne des Kunden gehandelt, der durch die eigene Beteiligung schließlich an Mitbestimmung und Autonomie gewinnt. Firmen wie Boeing oder Procter & Gamble nutzen das Netzwerk von InnoCentive um kostengünstig Problemstellungen aus der Forschung und Entwicklung von enthusiastischen Privatpersonen lösen zu lassen. Einen ähnlichen Marktplatz für Innovationen bietet NineSigma. Lego lässt seine Fans an der Gestaltung neuer Baukästen arbeiten. Im Handel tragen die Verpackungen dann den Hinweis Designed by Lego-Fans. Eine Vergütung für die vielen Stunden Arbeit gibt es jedoch nicht, schließlich ist es eine Ehre für den Fan ein neues Produkt mitentwickelt zu haben. Ähnliches gilt für die weit komplexeren Lösungen, die beispielsweise über InnoCentive generiert werden. Zwar sind Vergütungen hier durchaus in, für die Einzelperson, vergleichsmäßig hohem Ausmaß aufzufinden, es bleibt zu bemerken, dass die herkömmliche Beteiligung der Forschungs- und Entwicklungsabteilung weit kostspieliger gewesen wäre. Doch so werden Firmenprobleme zu persönlichen Herausforderungen, denen der Einzelne (ohne zu wissen, ob seine Idee später überhaupt berücksichtigt wird) in seiner Freizeit mit unreflektierter Selbstausbeutung begegnet. Mit Amazon Mechanical Turk (der Name ist dem Prinzip des Schachtürken aus dem 18. Jahrhundert entlehnt) werden endgültig auch die weniger professionalisierten Massen wieder mit ins Boot geholt. Auf www.mturk.com kann ein jeder Kleinstjobs annehmen, die von Amazon als HITs (Humane Intelligence Tasks) bezeichnet werden. Gemeint sind Aufgaben, die ein Computer in der Regel nicht erfüllen kann, wie das Auswählen des besten aus einer Reihe von ähnlichen Fotos oder die Bestimmung des Interpreten bei Musikstücken. Diese HITs nehmen für gewöhnlich nicht viel Zeit in Anspruch und entsprechend wird auch vergütet: von Centbeträgen bis zu wenigen Dollar pro Task.
Das hört sich erstmal gar nicht so schlecht an, da könnte ich mich ja eigentlich mal… so ein bisschen was nebenbei verdienen wäre doch… NEIN! Wenn uns dieser Gedanke in den Kopf kommt, dann sind wir auch schon mittendrin: Dressiert von und für den Kapitalismus, consumer education wird das auch genannt. Verrechnet man die Vergütung der HITs dann tatsächlich mal mit der erbrachten Arbeitszeit, so wird es nicht überraschen, dass von Stundenlohn kaum mehr die Rede sein kann - und man hat es noch nicht mal gemerkt. Letztlich hat man seine Freizeit gegen Arbeitszeit eingetauscht, dabei nur verloren und fühlt sich dennoch gut und klug und wahnsinnig gewieft. Von dem Selbstbetrug mal abgesehen, tritt ein Problem zu Tage, dass uns schon aus der Globalisierung 1.0 bekannt ist. Ein Software-Unternehmen aus Seattle, dass sich auf technischen Support spezialisiert hat, vergütete die Tätigkeit eines Reparaturdurchlaufs, die wenig komplex aber aufgrund erforderlicher Java- und Microsoft-Kenntnisse nicht von Computern ausgeführt werden konnte, einst mit $2000. Auf www.mturk.com fand die Firma eine Vielzahl so genannter Provider, die dieselbe Arbeit für $5 (!) verrichteten. Die Ausmaße einer derartigen Entwicklung sollen an dieser Stelle nicht erläutert werden. Die Frage, die sich abschließend jedoch stellt ist: In welchen Laken versinkt der moderne Arbeitnehmer und wann realisiert er, dass er in Wahrheit gar nichts mehr in der Hand hat?

Quellen:

Jeff Howe: The Rising of Crowdsourcing (http://www.wired.com/wired/archive/14.06/crowds.html) In: Wired Nr. 14, Juni 2006

Markus Rohwetter: Vom König zum Knecht (http://zeus.zeit.de/text/2006/39/Do-it-yourself) In: DIE ZEIT Nr. 39, 21. September 2006

1 Kommentar:

  1. Hier ein sehr schönes Beispiel... die Crowd schlägt zurück:

    http://de.news.yahoo.com/34/20110413/ttc-pril-schmeckt-lecker-nach-haehnchen-f0c422d.html

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