Welt am Draht

›Cogito ergo sum‹ – »Ich denke, also bin ich«. Mit diesem Satz definierte René Descartes vor gut dreihundertfünfzig Jahren den Beginn neuzeitlichen Denkens als rationale, d. i. nachgerade rationalistische Subjektphilosophie, indem er die Existenz eines autonomen Ichs aus sich selbst heraus zu begründen ersuchte. »Ich denke, also bin ich« – das ist nach Descartes der erste unbezweifelbare Satz. Doch der Zweifel blieb, zumal die Wirklichkeit des Denkens im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr infrage geriet. Bis in der Gegenwart manchen, die offenbar vom schlechten Idealismus als billiger Weltanschauung nicht lassen wollen, jede materielle und materiale Existenz des Daseins grundsätzlich bestreitbar scheint: Cogito ergo sum ist in der als Informationszeitalter technizistisch verklärten Welt nun nicht mehr Ende des Zweifels, sondern Anfang. Keine materiell-materiale Gewissheit soll es darüber geben, ob das »Ich denke« nicht vielleicht bloß eine kybernetische Simulation so genannter künstlicher Intelligenz sei. Das rührt indes an einem tatsächlichen Problem der cartesianischen Formel: Das »Ich« vom cogito muss nicht identisch sein mit dem »Ich« des sum. Als Problem ist das aber nur dem Materialismus zugänglich, dem die Welt nichts Unheimliches ist, sondern praktisch wirklich.
In der Variante des bisweilen kitschigen, aber stets überzeugenden Hollywood-Materialismus haben das die Wachowski-Brüder mit ihrer ›Matrix‹-Trilogie vorgeführt: Je scheinhafter, trügerischer die angeblich wirkliche Welt ist, desto authentischer, echter, »uriger« die wirklich-wirkliche Welt – sie ist unter der Oberfläche, erdig, wild, die Unterwelt als verlorene Natur und gelobtes Land (Zion) gleichermaßen; anders als durch den Rückfall in den Mythos (die Vorzeit: die Maschinendinosaurier, die Überlebenden als Urhorde mit animalischen Tanzeinlagen etc.) ist Aufklärung hier nicht zu haben. Dieses Modell simulativer Weltverwechselung hat bereits Platon mit seinem so genannten Höhlengleichnis skizziert; im zwanzigsten Jahrhundert ist es allerdings die Sciencefiction, die die literarische Vorlage liefert. Am bekanntesten dürfte der Roman ›Simulacron-3‹ von Daniel F. Galouye sein, einmal durch die von Roland Emmerich produzierte Verfilmung ›The 13th Floor – Bist du was du denkst?‹ (1999; R: Josef Rusnak), dann aber vor allem durch Rainer Werner Fassbinders zweiteiligen Fernsehfilm ›Welt am Draht‹ (1973), der jetzt in restaurierter Fassung auf DVD erhältlich ist.
»Kannst du dich erinnern«, fragt Henry Vollmer seinen Kollegen beim Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung zu Beginn, »als Kind hast du doch auch dieses Spiel gespielt ›Ich sehe etwas, was du nicht siehst, – Günther, ich weiß etwas, was du nicht weißt. Und was auch niemand wissen darf – weil es das Ende dieser Welt wäre.« Wenig später ist Vollmer tot, ermordet; und kurz darauf verschwindet Günther Lause, spurlos und ohne dass sich jemand an ihn überhaupt erinnern könnte – außer Fred Stiller, der nicht nur Vollmers Posten im Institut übernimmt, sondern auch, nach und nach, hinter Vollmers Geheimnis kommt: Die von dem Großrechner ›Simulacron-I‹ erzeugte »lebendige Welt in einem elektrischen Kasten« – das Forschungsprojekt des Instituts – ist nicht die einzige virtuelle Realität; vielmehr sind das Projekt, das Institut, die Stadt, die Menschen und eben auch Stiller selber Teile – »Simulationseinheiten« – einer weiteren computergenerierten Welt.
Fassbinder – der sich ein Jahr später, 1974, mit dem Bühnenstück ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹ durch antisemitische Ressentiments diskreditiert – entwirft seine Dystopie weder als Essayfilm (wie etwa Chris Markers ›Sans Soleil‹) noch als Actionfilm (das einzige, was hier an Martial Arts zu sehen ist, ist eine harmlose Schlägerei in der Werkskantine des Instituts), sondern als Psychogramm; deutsch wird der Film indes darin, dass er die psychologischen Motive ins Existenzialontologische verschiebt: die Frage nach der Realität wird zur Frage nach dem Sinn des Seins – beantwortet wird sie mit Innerlichkeit, nicht mit gesellschaftlicher Praxis. Zwar ist die Handlung – anders als etwa bei ›Matrix‹ – in der kapitalistischen Gegenwart situiert, doch bleiben Staat, Polizei, Firmen, Gewerkschaften und Betriebsräte etc. letztendlich Kulisse einer immer schon idealistisch, oder besser solipsistisch verstandenen Welt. Simulacron ist »ein winziges Universum unserer selbst«, und dieses Selbst ist niemals ein kollektives. Der Fluchtpunkt ist der Wahnsinn, »weil es keiner aushält, künstlich zu sein und darüber Bescheid zu wissen«. So hat der von Klaus Löwitsch gespielte Stiller also eine »künstliche Macke«, die sich vor allem als Angst manifestiert (man muss hinzusetzen: Angst im Heideggerschen Sinne; bemerkenswert zudem, dass etwa bei ›Matrix‹ Angst nicht vorkommt). Hilfe findet Stiller, der nunmehr als geisteskrank und gefährlich gilt, bei Vollmers Tochter Eva, eine apathisch-erotisch anmutende Schönheit, dargestellt von Mascha Rabben (bekannt aus ›Schulmädchen-Report‹, 1970; ging noch 1973 in einen Ashram nach Indien). Sie stellt sich schließlich als Verbindung zur wirklichen, »oberen« Welt heraus, und rettet Stiller, wobei auch die Liebe zwischen den beiden nicht zu einem wirklich erlösenden Wir führt, sondern Stiller – der Name dürfte mit Bedacht als Anspielung auf Max Frischs Roman gewählt sein – lediglich auf das cartesianische Cogito ergo sum zurückwirft; dem entsprechend sind die letzten Worte eines schließlich auch nur scheinbar in der endgültigen Wirklichkeit angekommenen und nun wohl vollends verrückten Fred Stiller: »Ich bin!«

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