Über virtuelle Identitäten und Imagination

Wenn man „Internet“ und „Identität“ bei google eingibt erhält man bereits als viertes Suchergebnis einen Link zu Wikihow, in dem einem eine Anleitung gegeben wird, „wie man sich eine gefälschte Identität im Internet anlegt“ ohne dabei seine „reale“ Identität preiszugeben. Der Computer hat längst seinen Aufgabenbereich von der Kalkulation und Textverarbeitung in den der Kommunikation gelegt. Virtuelle Räumen von Spielen und Konversationen (Bsp. MOOs) sind darauf angelegt, dass der User seinen eigenen Charakter neu formen und nach außen darstellen kann. Die Erstellung einer Cyberidentität geschieht nicht nur durch neue Namensgebung, sondern ebenso durch Gestaltung neuer Umgebungen, sozialer Regeln und Rollen und Persönlichkeitsstrukturen. Im sogenannten „gender-swapping“ wechselt man beispielsweise auch das biologische Geschlecht oder tritt als geschlechtsneutral auf. All dies wird durch Textcodes generiert, Gefühle werden in den virtuellen Gesprächen durch „Emoticons“ wie Smileys und der sprachlichen Imitation von Ausrufen verdeutlicht. Durch eine solche standardisierte Sprache glauben die User sich besser ausleben zu können als in der Alltagswelt, weil in der Kommunikation beispielsweise die gängigen Merkmale wie soziale Herkunft, Geschlecht, Aussehen usw. keine Rolle spielen (sollten). Zudem meinen die User solcher Foren, sie können sich kreativ in der Gestaltung ihrer fiktionalen Persönlichkeit ausleben. Dennoch muss man auch in der virtuellen Welt ein gewisses Interesse auf sich ziehen, um sich aus den Massen der User hervorzuheben, was sich wiederum durch beispielsweise bestimmte Nicknames bewerkstelligen lässt. Die Hauptcharakteristika dieser Chatrooms liegen auf der Hand: die User können schnell und anonym miteinander kommunizieren. In den Userprofilen haben die Nutzer die Möglichkeit ihre Identität frei zu gestalten und nach ihren Ideen und Wünschen umzuformen.

Doch ist die virtuelle Identität freier zu gestalten als die reale, alltagsweltliche?

Die virtuelle Identität ist, genauso wie die reale, eingebunden in die eigenen Persönlichkeitsstrukturen. Was im realen Leben vielleicht nicht umzusetzen ist, wird sich auch im Cyberspace nicht umsetzten lassen. Auch das kulturelle Milieu aus dem die Person kommt, setzt sich in der neu angelegten Persönlichkeit durch. So sind Sprache und Text immer ein Indiz auf die soziale Schicht und das sich entwerfende Subjekt bleibt immer der Eigendynamik der Sprache ausgesetzt. Zudem ist Subjektivität stets ein Produkt individueller wie kollektiver Einbildungskraft und damit ein Prozess unaufhörlicher Transformationen. Auch eine virtuelle Identität wird auf die Reaktionen seines Umfeldes reagieren (müssen), denn durch Isolation wird nie eine ganzheitliche Identität entstehen. Und die oft betonte Fähigkeit der virtuellen Identität, sich ständig im Wandel zu befinden, oder zumindest die Möglichkeit dazu zu haben, besteht auch im Alltag. Vielmehr kann sich eine Persönlichkeit eigentlich nur durch diese unaufhörlichen Prozesse und durch Reaktion auf Situationen in seiner Subjektivität verwirklichen. Auch die Imagination nahm schon immer eine große Rolle bei der Suche nach Subjektivität ein, dies ist keine Erfindung des Cyberspace. So kann man Literatur als „Technologie des Selbst“ verstehen. Der Autor versucht seine Subjektivität für diesen Moment festzulegen und neue Deutungen zu erproben. Er macht sich in diesem Sinne selbst zum Projekt, ist darin aber auch der Sprache unterworfen und den gesellschaftlichen Verhältnissen wie der eigenen Imaginationskraft. Dem Imaginären werden also immer Grenzen gesetzt, denen man auch durch fiktionale Selbstinszenierung nicht entrinnen kann. In den virtuellen Räumen der Persönlichkeitserschaffung befindet man sich außerdem in einem sehr engen Rahmen von vorgegebenen Regeln des Programms. Dem entsprechend werden auch hier normierte Sprachcodes genutzt und gewisse Verhaltensregeln vorgegeben. Hier sei am Ende die Frage gestellt, inwieweit solche Vorgaben die Phantasie nicht vielmehr beschränken, statt ihr Freiraum zu lassen. Kann das Programm als Kontrollinstanz verstanden werden, die automatisch der Imagination und Persönlichkeitsgestaltung durch technische Einschränkungen eine Grenze setzt?


Quellen:

Turkle, Sherry, 1996, Identität in virtueller Realität, Mannheim.

Iser, Wolfgang, 1993, Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt.

Becker, Barbara, 1997, Virtualisierung des sozialen. Die Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung. Frankfurt/Main.

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