Archiv

"Die Geschichte wird von Siegern geschrieben." - (Sprichwort unbekannter Herkunft)

"Geschichte wird geschrieben von Menschen mit Administrator-Rechten auf Wikipedia…." - (ein Twitter Kommentar)

Zunächst scheint es interessant einige Gedanken zu der Wortherkunft, der Etymologie des Begriffs "Archiv" anzustellen. Etymologie, als Wissenschaft ist sich dem fluiden Charakter ihres Forschungsgegenstandes wohl bewusst und wird hier als deskriptive Wissenschaft verstanden, welche den Wandel eines Wortes, in Bezug auf seine Herkunft, Lautgestalt, Gebrauch und Bedeutung aufzeichnet. Sie dokumentiert den normativen Aspekt, in dem sie ein Wort idealerweise immer in Bezug zu seinen jeweiligen, z.B. zeitgeschichtlichen und kulturellen Bezügen setzt. So betrachtet, stützen sich Etymologie und Archivarbeit auf vermeintlich ähnliche Gütekriterien. Dem Begriff "Archiv" liegen mehrere interessante Ebenen der Herleitung zu Grunde, auf die hier jedoch nur exemplarisch eingegangen werden soll, da sich Sinn und Zweck dieser Überlegungen recht schnell erschließen. "Archiv" ist demnach verwandt mit dem Wort Arché, altgriech. für Anfang, Prinzip oder auch Ursprung. Archonen oder auch Archonten waren hohe Regierungsbeamte im antiken Athen, welchen unter anderem die Aufgabe (das Privileg) zu Teil wurde, wichtige offizielle Dokumente in ihren Häusern zu bewahren, also zu archivieren. Das griechische Wort archeion beschreibt ein Regierungs- oder Amtsgebäude. Die Bewahrung wichtiger Dokumente, inklusive ihrer Herausgabe und Interpretation scheint also jeher eng verwoben mit hierachischen Strukturen. Die Auswahl / Aufbewahrung von Dokumenten, ebenso wie ihre Interpretation verleihen dem Archivar demnach Macht, verdeutlichen aber zugleich ebenfalls, dass ein Archiv immer nur eine Montage, also einen konstruierten, selektierten Ausschnitt dessen wiedergeben kann, was es vermeintlich in Gänze abzubilden behauptet. Heutigen Archiven scheint, nach wie vor, derselbe Geist inne zu wohnen. Offensichtlich zu beobachten in der Existenz nicht frei zugänglicher Archive, aber auch durch Berufsfelder wie die des Kurators, Historikers oder Bibliothekars (etc.), welche zwangsläufig akzentuieren, aussortieren oder hervorheben. Der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman schrieb über das Wesen von Archiven (hier etwas vereinfacht), dass gerade die Lücken eines Archivs prägender Bestandteil desselben seien."Darum werden wir uns jedes Mal, wenn wir eine historische Interpretation – oder eine »Archäologie« im Sinne Michel Foucaults – aufzubauen suchen, hüten müssen, das uns verfügbare Archiv (l’archive) – und sei es noch so ausufernd – mit den Handlungen und Taten einer Welt gleichzusetzen, von der es immer nur einige Überreste liefert. Das Eigentliche des Archivs ist seine Lücke, sein durchlöchertes Wesen." [1] Wie verhält es sich nun aber mit den, vermeintlich neuen Formen von Archiven? Verändert das, sich seit geraumer Zeit in aller Munde befindende, Web 2.0 das Wesen und die Dynamik von Archiven? Fügt es eine weitere Spielart hinzu, oder ist die digitale Archivierung Dasselbe in Grün, bzw. in #228B22 ?
Die Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assman sieht im Übergang zum 21.Jahrhundert einen epochalen Wandel im Bezug auf die Erinnerungskultur. So sieht sie eine Verschiebung in der Logik der Erinnerung, wonach nicht mehr nur heroische Taten aufgezeichnet werden, sondern "auch dem individuellen Leiden Raum gegeben und Verbrechen erinnert werden, die man lieber vertuscht hätte. Die rückwirkende Anerkennung von Verbrechen und Traumata ist ein wichtiger Faktor geworden, der die Erinnerungslandschaft weltweit grundlegend verändert." [2] Gleichzeitig scheinen jedoch andere Prinzipien an Bedeutung zu gewinnen, welche Assman mit folgendem Bild zu beschreiben versucht:„Die angemessene Metapher für das Internet ist nicht die Bibliothek oder das Archiv, sondern der Supermarkt. In der Ökonomie der Bibliothek sind die alten Bestände zum Teil sogar wertvoller als die neuen. In einem Supermarkt dagegen ist das Neue und Frische am wertvollsten. In der Bibliothek zählt die abstrakte Systematik des Katalogs, im visuellen Medium des Internets zählt die Kunst des ansprechenden Displays. Das Internet ist ein globaler Treffpunkt und eine gigantische Datenbörse, aber kein Speicher. Es ist allerdings die Grundlage für individuelle, dezentrale Aktivitäten des Sammelns und Archivierens." [3] Ausgehend von diesen Beobachtungen möchte ich exemplarisch noch eine Internetplattform anführen und zur Diskussion freigeben, ob es sich bei ihr um ein klassisches Archiv handelt, ihr gewisse Charakteristika von Archiven zu Grunde liegt, oder ob sich der Begriff Archiv überhaupt nicht auf sie anwenden lässt. Zur Diskussion möchte ich die Videoplattform youtube.com heranziehen, gegründet im Jahr 2005. Die Seite wird inzwischen über 2 Milliarden mal pro Tag aufgerufen, jede Minute werden 35 Stunden Videomaterial hinzugefügt, außerdem wird geschätzt, dass Youtube für ca. 10 Prozent des gesamten Internet-Datenverkehrs verantwortlich ist. [4] Aufgrund nahezu unbegrenzter Speicherkapazitäten, folgt Youtube einer Dynamik, welche sich an etlichen "Orten" des Netzes etabliert hat: Die Nutzer generieren, verwalten und bewerten den Inhalt größtenteils selbst. Bietet Youtube somit evtl. die Möglichkeit ein Bild unserer Zeit zu erstellen, welches näher an die Abbildung wirklicher Realität heranreicht, als es ein Archiv, im klassischen Sinne je im Stande sein könnte zu tun ? Ist der zuvor angesprochene "Kampf" um Aufmerksamkeit im Netz, evtl. die Übertragung der archivsimmanenten Hierarchie in ein Zeitalter, dass keinen (digitalen) Platzmangel und keine (digitalen) Reproduktionskosten kennt ? Videos, die gelöscht werden tauchen an anderer Stelle erneut auf, verweisen auf neue Inhalte und / oder kommentieren diese. Sind dies Charakteristika eines Archivs, welches einer rhizomatischen Organisation folgt, wie sie von Deleuze und Guattari beschrieben wurde? [5] Internetseiten, wie Wikipedia oder Wikileaks und seine (bald) erscheinenden Klone, reihen sich natürlich in diese Diskussion ein.

[1]: Didi-Huberman, Georges und Ebeling, Knut: Das Archiv brennt. (März 2007)
[2]: Was bedeutet eigentlich Erinnerung? - Aleida Assmann im Gespräch. (
http://www.goethe.de/ins/ru/lp/ges/eri/de7000483.htm)
[3]: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. (3.Aufl. Februar 2006)
[4]: (
http://www.chip.de/news/YouTube-Jede-Minute-35-Stunden-neue-Videos_45647551.html)
[5]: Hartmann, Frank: Medienphilosophie. (2000)


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