Rhizom

"Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose..."

Zur kritischen Näherung des Rhizoms


Schaut man im Duden unter "Rhizom" nach, findet man folgende Definition: "Rhizom s; -s, -e: Wurzelstock (Erdspross, der meist Speicherfunktion hat; Bot.)".

1977 entwarfen Gilles Deleuze und Felix Guattari in einem Vorwort diesen Begriff in einer anderen Manier: Ein Rhizom sollte die Bezeichnung für ein System sein, dass ohne jegliche Organisation oder Hierarchie auskommt; ein Gegenbegriff zu Dichotomie und dem Baum des Wissens, der jedem Element nur eine einzige Ebene zuordnet, darstellen. Deleuze und Guattari kritisierten bestehende Ordnungssysteme ob ihrer Engstirnigkeit bezüglich Veränderungs- und Verschiebungspotenzialität von Begrifflichkeiten. Kreuzungen und Überschneidungen würden in einem streng hierarchischen System keinen Platz finden und daher sei es wichtig diese Prinzipien bekannter Ordnungen zu hinterfragen, allein schon, weil die Diktatur selbst sich auf ein hierarchisches System stütze und es diese drohende politische Gefahr grundsätzlich auszuschließen gilt.

„Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter.“ (Deleuze und Guattari)

Die Ordnung in einem Rhizom ist also von Vielfalt statt von Einheit geprägt und unterliegt keinerlei Machtstrukturen. Jeder beliebige Punkt kann und muss mit jedem anderen verbunden werden. Es gibt keinen Stamm, keinen Ursprung, kein Ende und keine Struktur, sondern nur Verbindungslinien.


Richard Barbrook stellt in einem 80 Seiten langen Essay seine Kritik an Deleuze und Guattari bezüglich deren Begriff des Rhizoms dar. Die gekürzte Version trägt den Titel: "Die heiligen Narren" (Untertitel: "Deleuze, Guattari und die High-tech Geschenksökonomie"). Mit Sicherheit ist dieser Text ein Rundumschlag gegen die beiden von ihm als weltfremd betitelten Philosophen als Solche ("der Glaube an den Sturz des kapitalistischen Systems ist nicht länger realistisch"), ihre utopische Weltsicht ("Eine revolutionäre Traumzeit für die Imagination"), ihre unreflektierte politische Anschauung ("Obwohl diese beiden Philosophen ihr Leben lang erklärte Linke waren, unterstützen viele ihrer zeitgenössischen Anhänger eine Form des aristokratischen Anarchismus, der dem kalifornischen Neo-Liberalismus auf unheimliche Weise ähnelt.") und ihre mindestens genauso naiven Anhänger ("Gefangen in ihren Glaubensregeln können die Schüler von Deleuze und Guattari nicht einmal erfassen, warum der Wachstum des Netzes wirklich ein so subversives Phänomen ist"). Einige interessante Behauptungen seien im Folgenden genannt. Barbrook behauptet, der von den von ihm so genannten „Techno-Nomaden“, also den Deleuzeguattarianern verwendete Begriff des Rhizoms zur Bezeichnung des Cyberspace als offenes, spontanes und horizontales Netz würde zum Beispiel Cybersex romantisieren. Nähere Erläuterungen erspart er dem neugierigen Leser jedoch. Die Vertreter der Rhizom-Theorie bildeten laut Barbrook eine Subkultur im Bereich der Netze und des Netzes. Außerdem verweist er im gleichen Atemzug auf eine „digitalisierte Revolution“, „Computertechnologien, Techno, bizarre Wissenschaft, esoterische Glaubenssysteme, illegale Chemikalien und Cyberpunk Romane“. Man muss sich also fragen, inwieweit seine Kritik an der Unsachlichkeit Deleuze und Guattaris ihn eventuell selbst entlarvt.

Dem Begriff des Rhizoms unterstellt er letztendlich in seiner Verwendung fehlgeleitet worden zu sein und Titel einer modernen „unorganisierten Struktur der New Yorker Cyberkunstszene“ geworden zu sein. Das Rhizom also ein Modewort? Barbrook warf zu Beginn seines Textes den beiden „Anarcho-Kommunisten“, alias Deleuze und Guattari, alias „D&G“ vor den Begriff politisiert zu haben und ihn daher an Überzeugungskraft beraubt zu haben. Später kreidet er allerdings ihren Vertretern an den Begriff heute zu entpolitisieren und die ursprüngliche Bedeutung für nichtige Zwecke (als Legitimation zur Bildung von schwachsinnigen Subkulturen im Internet) zu missbrauchen.

Zur Klärung des Begriffs als solchem trägt dies alles herzlich wenig bei.

Laut Jörg Seidel, der sich einst ebenfalls, wenn auch wesentlich detaillierter und konkreter mit dem „Phänomen Rhizom“ befasste, ist der Begriff als solcher zunächst einmal eine Worterfindung und wurde erst in der losgelösten Verwendung außerhalb des Werkes von Deleuze und Guattari schwammig und uneindeutig. Er bekräftigt die Aussagen Deleuzes und Guattaris über das Rhizom als „ontologische Kategorie, die die Struktur von Sein, von Welt beschreibt“. Deleuze und Guattari behaupteten, Vielheiten müssten gemacht, im Denken und Handeln konzipiert werden, es reiche nicht aus nur darüber zu sprechen. Man müsse die Vielheiten machen und sein. Seidel erklärt, dies bedeutete, man müsse das Viele in die Sprache einführen und diese als Einheit zerlegen, also die Sprache umstrukturieren und dekonstruieren. Das Viele zu thematisieren bedeutete, es vielfach zur Sprache zu bringen. Es einmalig zu thematisieren wäre ungenügend, man müsse es vielfältig beleuchten und andererseits immer etwas weglassen, ein Wort, einen Satz, damit es niemals abgeschlossen werden sein kann; versuchen das Ganze zu verhindern. Wenn dies gelinge, das Ganze zu verhindern, bei gleichzeitiger Gewährleistung der Ganzheit, wäre das ein Rhizom. Zwei Prinzipien seien einzuhalten bei dem Rhizom: Konnexion und Heterogenität; darauf verwiesen bereits Deleuze und Guattari. Diese müssen zusammen und gleichzeitig gedacht werden, sollen aber nicht miteinander vereint oder vermischt, also zu einer Masse gegossen werden, sondern bleiben als Vielheiten nebeneinander stehen. Auch das deleuzeguattarianisch asignifikante Prinzip erläutert Seidel seinen Lesern: Rhizome können und werden gebrochen, denn auch das Rhizom bricht in andere Verbindungen ein und zerbricht sie unter Umständen auch. Diese Eigenschaft ist vollkommen bezugslos, weshalb von Asignifikanz gesprochen werden kann.

Unterstützend zu seiner Argumentation führt Seidel Baudrillard an, dessen Kritik an Deleuze und Guattari bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung des Werkes über das Rhizom erschien: Er warf den beiden vor, nach Beendigung der teleologischen Macht eine neue Struktur entworfen und wieder eingeführt zu haben. Also exakt das Gegenteil von dem, was Deleuze und Guattari eigentlich vor hatten. Außerdem bemängelte Baudrillard die „merkwürdige Komplizenschaft mit der Kybernetik“. Er stellt die Vorstellung des Rhizoms als zu feingliedrig dar und sagt: „Heutzutage gilt es als chick und revolutionär sich im Molekularen herumzutreiben.“ und genau aus diesem Grund sollte man dem Rhizom mit misstrauen begegnen.

Sein Plädoyer für den Begriff des Rhizoms leitet Seidel mit folgendem Zitat ein:

„Dass etwas ein Rhizom ist, kann nicht heißen, alle rhizomatischen Bestandteile auffinden zu wollen, denn selbstredend enthält, auf der einen Seite, die Idee des Rhizoms einen gewissen idealtypischen Anteil - der Rattenbau z.B. ist streng betrachtet durchaus kein (reines) Rhizom - auf der anderen Seite beinhaltet jegliches Rhizom auch Baum- und Wurzelstrukturen, auch Strukturen jenseits der angedeuteten Charakteristika; es ist damit mehr als ein Rhizom, ebenso wie es weniger ist.“

Es wäre laut Seidel möglich Phänomene rhizomartig zu strukturieren, es ist aber überflüssig, weil sich das Rhizom selbst strukturiert (insofern es sich überhaupt strukturiert) es reiche also aus an den Willen und die Wahrnehmung des Rezipienten zu appellieren. Dass jeder beliebige Punkt mit jedem anderen verbunden werden muss fasst Jörg Seidel nicht als utopischen Pessimismus auf, sondern sieht hierin totalitäre Grenzen des Entwurfs und insofern eine Einschränkung, die aus seiner Sicht aber eben positiv zu betrachten ist, weil er alles andere als ideologisch und somit nicht praktikabel begreift. Die Form nicht abzuschließen und das System wild wuchern zu lassen sei innerhalb der Darstellung mit Hilfe des Prinzips des Bruchs möglich, um Ganzheiten, Schönheiten, Feinheiten meist dann zu zerstören, wenn sie am schönsten sind, denn laut Seidel sind Erwartungen im Rhizom einzig dazu da enttäuscht zu werden:

„Auch der Begriff der Geilheit ist ursächlich ein botanischer, wo er als Synonym für wuchern gilt. Die geile Pflanze wächst üppig, treibt kräftig, schlingt wild, wuchert - sie macht Rhizom wie: "eine Rose ist eine Rose ist eine Rose...".“

Ob wir botanische Begriffe in unserer Sprache für Phänomene verwenden, die wir uns ansonsten kaum erklären können, weil sie mit diesem „Naturargument“ an Überzeugungskraft gewinnen und was dies im Bezug auf das Phänomen Internet zu tun hat, möchte ich gerne dem nächsten Schreiberling überlassen, denn ich könnte nur Vermutungen anstellen. Interessant scheint mir doch, dass von dem Rhizom offensichtlich doch so große Faszination ausgeht, dass es sich immerhin auch für die oben genannten Autoren lohnt darüber wahnwitzige Kritiken zu schreiben. Gilles Deleuze und Felix Guattari versuchten mit der Entwicklung des Rhizoms abzukommen von der Vorstellung alles sinnvoll und eindeutig einzuordnen, weg von der Sucht nach konkreten Definitionen und Systematisierung wo es nur geht. Umso wichtiger erscheint es mir auch ihre Kritiker zu Wort kommen zu lassen, denn sie heben das deleuzeguattarianische Konzept auf andere Ebenen, sie erkennen andere, widersprüchliche Bedeutungsmuster und Verbindungslinien, sie formulieren es um und schaffen und sind in diesem Sinn eben genau das, was ein Rhizom sein soll: undefinierbar.


Quellen:

Barbrook, Richard: „Die heiligen Narren“ http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6344/1.html (14.1.2011)

Der große Duden, Fremdwörterbuch, Band 5, 2. Auflage, Mannheim, 1971

Seidel, Jörg: „Rhizom“ http://seidel.jaiden.de/rhizom.php (14.01.2011)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.