Kollektive Intelligenz

„Daß aber die Entscheidung eher bei der Menge

als bei der geringeren Zahl der Besten zu liegen habe,

das scheint zu bestehen und sich verteidigen zu lassen,

ja vielleicht sogar wahr zu sein.“

Aristoteles: Politik III, 11 (1281 a38-b9)


Informationsflüsse haben sich geändert. Wissen wird im Internet in Echtzeit verteilt, verarbeitet, bewertet, wieder eingespeist. Information ist zugänglich. Für den Einzelnen, für die Masse. Meinungen finden gehör in Foren, Blogs, sozialen Netzwerken. Die Meinung des einzelnen zählt. Wieder. Oder zählt die Meinung des Kollektivs?


Schon Aristoteles merkte in seiner Summierungstheorie an, dass die Entscheidung einer Gruppe von der des Einzelnen, des Ungebildeten oder Fachkundigen, abweicht. Dass in der Summe der Meinungen ein Potenzial liegen kann, dass das des Individuums übersteigt. Eine Annahme, die gerne als Argumentationsbasis für die Demokratie als Staatsform herangezogen wird.


Aber sind wir in der Gruppe klüger? Ist die „Weiheit der Vielen“, wie James Surowiecki sie in seinem gleichnamige Buch benannte, die Gruppen- oder Schwarmintelligenz, die die Biologie, die Soziologie, die Informatik beschäftigt, die tatsächlich die erfolgversprechenste Entscheidungsstrategie? Oder birgt Gruppendenken nicht gleichwohl die Gefahr irrationaler Entscheidungen, die unter dem Konformitätsdruck des Kollektivs entstehen?


Folgt man Pierre Lévy, Universitätsprofessor für Hypermedia, so wird der Raum des Wissens von der Technologie ermöglicht und von den Menschen realisiert. Diese (virtuellen) Räume schaffen die Vorraussetzung, den Ort an dem kollektive Intelligenz entstehen und wirken kann. Der Ort an dem die Teilnehmer ihr spezifisches (Un-)Wissen einbringen können.


„Ist die Verbindung von Netzwerken und Wissen keine konstituierende sondern allenfalls eine infrastrukturelle?“ wollen Gendolla und Schäfer in ihrem Buch „Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft“ herausfinden. Inwiefern verändert die Informationstechnologie die infrastrukturellen Voraussetzungen für die Verteilung von Wissen? Demokratische Prozesse? Bilden sich Meinungen, weil der technische Rahmen es zulässt?


Laut Lévy war die direkte Demokratie bisher nicht realisierbar. Mit den sich ständig erweiternden technologischen Möglichkeiten rückt die Umsetzbarkeit für sein Dafürhalten jedoch in greifbare Nähe. Die „Notlösung“ der repräsentativen Demokratie, in der der mündige Bürger zum Wähler wurde, könnte für ihn bald Geschichte sein. In Lévys Vorstellung des Cyberspace lösen Gleichgesinnte Probleme durch „gemeinsames“ Denken. Für ihn ist dies die Umkehrung des Totalitarismus; die kollektive Intelligenz kontrolliert sich selbst.


Das tut sie jedoch nur, wenn einige Voraussetzungen erfüllt sind. Nach Surowiecki unterscheiden sich rationale von irrationalen Gruppen vor allem durch vier Merkmale, denn nicht alle Gruppen sind weise. Zu den Eigenschaften rationaler Kollektive gehören Meinungspluralismus, Unabhängigkeit der Meinungen, Denzentralisierung und Aggregation.


Sind in Gruppen zum Beispiel eine hohe Kohäsion, starke interne Dominanz, Abschottung nach außen oder mangelnde Strukturen nachzuweisen kann dies zu selektiver Wahrnehmung und damit in der Konsequenz zu folgenschweren Fehlentscheidungen kommen.


Das Internet hat die Infrastruktur geschaffen. Sie muss nun intelligent, nicht nur kollektiv genutzt werden.



Gendolla, Peter/ Schäfer, Jörgen (2004): Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft. Transcript: Bielefeld.


Gigon, Olof (Hrsg.) (2006): Aristoteles. Politik. Dtv: München.


Lévy, Pierre (1998): Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace. Bollmann Verlag: Köln.

Surowiecki, James (2007): Die Weisheit der Vielen.Warum Gruppen klüger sind als Einzelne. Goldmann: München.

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