Zeitvorstellungen

Zeit lässt sich aus der Perspektive verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen untersuchen. Dieser Text beschäftigt sich mit der soziologischen Betrachtung von Zeit. Zeit ist dabei als ein soziales Konstrukt zu diskutieren. Das gerät durch die verinnerlichten Zeitvorstellungen und den alltäglichen Umgang mit Zeitsymbolen oft ins Vergessen (vgl. Neverla 2007: 43). Die soziale Konstruktion von Zeit entsteht dabei durch Objektivation und Externalisierung in Form von zum Beispiel mechanischen Zeitgebern. Durch die Übertragung der objektivierten Zeit in die Alltagswelt der Individuen wird Zeit zum Bestandteil des Alltagswissens. Zeit wird internalisiert. Das Bewusstsein für Zeit wird verinnerlicht und dieses Wissen wird an nachfolgende Generationen weitergegeben (vgl. Beck 1994: 114).

Die kulturelle Entwicklung der Zeit lässt sich anhand der verändernden Zeitordnungen rekonstruieren. Die herrschende Zeitordnung scheint dabei im engen Zusammenhang mit dem Zivilisationsstand einer Gesellschaft zu stehen. Als occasionell wird die Zeitvorstellung in Gesellschaften der Jäger und Sammler und in einfachen Agrargesellschaften bezeichnet. Als Zeitgeber fungieren punktuelle Ereignisse (vgl. Neverla 1992: 29). Da sich die Zeitgestalten der Medien den vorherrschenden Zeitvorstellungen anpassen und in der Moderne sogar zu sozialen Zeitgebern werden, kann man die Geschichte der Zeit auch anhand der angebotenen Medien rekonstruieren. Soziale Zeitgeber werden hier verstanden als „Institutionen oder Geräte, die den Menschen eine konkrete Matrix für die Synchronisation ihres sozialen Handelns bieten.“ (ebd.: 59) In der occasionellen Zeitvorstellung sind Flugblätter und Flugschriften die Verkörperung von ad-hoc Medien. In entwickelten Agrargesellschaften ist das Leben auf die Natur ausgerichtet. Tag ist, wenn die Sonne scheint und Nacht, wenn die Sonne untergeht. Auch der Arbeitstag wird von der Natur bestimmt. Saat- und Erntezeiten bestimmen den Arbeitstag. Die an Naturzyklen orientierte Zeitordnung wird von der Zeitsoziologie als zyklisch bezeichnet. Periodische Medien wie Zeitungen und Zeitschriften entsprechen dieser zyklischen Zeitvorstellung (vgl. ebd. 2007: 45). Der industrielle Arbeitstag in der modernen Gesellschaft wird unabhängig von biologischen Faktoren strukturiert. Der Arbeitstag beginnt um 9 Uhr und endet um 17 Uhr. Eine linear-abstrakte Zeitvorstellung dominiert das Alltagsleben. Wobei zu beachten gilt, dass mit der Entwicklung einer neuen Zeitordnung, die vorherigen nicht komplett abgelöst werden. Auch im Alltag moderner Gesellschaften lässt sich noch zyklisches und occasionelles Zeithandeln finden. Die Medien berichten z.B. punktuell, unterbrechen ihren linearen Programmfluss, wenn es Katastrophenmeldungen zu verkünden gibt und die meisten Menschen halten sich in ihrem Schlafrhythmus an die Naturzyklen Tag und Nacht. Mit Blick auf die Medien der linear-abstrakten Zeit entsprechen das Fernsehen und das Radio mit ihren festen Programmstrukturen und dem kontinuierlichen Programmfluss der Zeitvorstellung der Moderne (vgl. ebd.).

Beck rekonstruiert die Geschichte der Zeit ebenfalls analog zu dem Zivilisationsstand der Gesellschaft, wobei er die Kirche ins Zentrum seiner Darstellung stellt. Nach Beck entwickelte sich neben der zyklischen Zeitvorstellung auf dem Land, bereits seit dem 10. Jahrhundert eine lineare Zeitvorstellung innerhalb von Klöstern. Das Leben innerhalb der Klöster orientierte sich an einem Tagesplan und nicht an den Zyklen der Natur. Die Mitternachtsmesse, die auch heute noch praktiziert wird, ist ein gutes Beispiel für dieses von den natürlichen Zeitgebern losgelöste Leben. Zudem etablierten sich in den Klöstern bereits Zeitnormen, wie Pünktlichkeit und das Einhalten von Zeitvorgaben. Außerhalb der Klostermauern setzte sich die lineare Zeitvorstellung mit dem Bevölkerungswachstum in den Städten und der Entwicklung des Handwerks durch. Angefangen mit der objektivierten Technik der Räderuhren zwischen 1270 und 1300, wurden mechanische Zeitgeber durch die Präsenz der Rathaus- und Turmuhren im 14. Jahrhundert endgültig zum Bestandteil des öffentlichen Lebens. Als Ergebnis gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rationalisierungsprozesse wuchs das Bedürfnis von Handwerkern, Unternehmern und Kaufleuten, Geschäftsvorgänge zeitlich zu planen und zu kontrollieren. Die Einteilung des Arbeitslebens in Tage wurde bald darauf durch das Zeitmaß der Zeitstunde ersetzt. Durch Zimmer-, Tisch- und Reiseuhren wurden die mechanischen Zeitgeber im 15. und 16. Jahrhundert in den Alltag der Menschen integriert. Der Zeitgeber Natur wurde in den Städten durch den objektivierten Zeitgeber der Uhr ersetzt. Von einer Domestizierung der Uhrenzeit kann man erst ab dem 19. Jahrhundert sprechen, da vorher nur wenige Bevölkerungsgruppen im Besitz einer Uhr waren. Begründen lässt sich dieser langsame Prozess mit den anfänglich hohen Preisen und damit, dass nur wenige Bevölkerungsgruppen die Notwendigkeit sahen, eine eigene Uhr zu besitzen. Im 19. Jahrhundert trugen dann mehrere gesellschaftliche Entwicklungen zur endgültigen Etablierung einer linearen Zeitvorstellung bei. Die Synchronisation lokaler Fahrpläne erforderte zum Beispiel die Einführung von Zeitzonen. Als Beispiel für zeitverdichtende Strategien lassen sich die ab 1880 eingeführten Speisewagen in Eisenbahnen nennen, die Paralleltätigkeiten während der Bahnfahrt ermöglichten (vgl. Beck 1994: 130ff.).

Sind wir im 21. Jahrhundert nicht schon eine Zeitordnung weiter? Viele Arbeitstage sind nicht mehr in Stunden zu messen. Die Menschen arbeiten dort und dann, wenn es Arbeit gibt. Das kann auch nachts zu Hause sein oder im Zug auf dem Weg zum nächsten Termin. Durch die medial bedingte Überall- und Allzeiterreichbarkeit scheinen sich Arbeits- und Freizeit zu vermischen. Es bleibt zu fragen, ob es die Freizeit in Zukunft überhaupt noch geben wird. Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts wird Zeit als knappes Gut gehandelt. Im Zentrum steht die Auffassung, dass das individuelle Zeitkontingent unterschiedlich gefüllt werden kann. Diese Freiheit baut Druck auf, denn es gilt zwischen verschiedenen Alternativen an Aktivitäten zu wählen. Das Empfinden für Zeitknappheit entsteht dabei aus dem Wissen über die Begrenztheit der eigenen Lebenszeit heraus. Neben dieser als absolut empfundenen Zeitknappheit, gibt es die relative Zeitknappheit, die die Arbeits- und zunehmend auch die Freizeit bestimmt. Das strikte Zeitmanagement der Arbeitswelt wird auf private Bereiche übertragen und Zeitsparen wird auch hier zur Tugend (vgl. Beck 1994: 138f.). Zeitsouveränität wird zum wichtigsten Ziel in der Gestaltung des schnelllebigen, durch Zeitknappheit bestimmten Alltags. Neben dem Wunsch nach Zeitsouveränität im Arbeitsalltag in Form von Projekt- oder Heimarbeit, Sabbatphasen oder Teilzeitarbeitsverhältnissen, bestimmt der Wunsch, die begrenzte Lebenszeit zeitlich selbstbestimmt zu gestalten, auch das Freizeitverhalten. Die traditionellen Medien wie Fernsehen, Radio und Printprodukte widersprechen mit ihren zeitlich festen Programmstrukturen bzw. Erscheinungsweisen dieser neuen Zeitökonomie (vgl. Schatter 2008: 57). Stattdessen agieren die Rezipienten räumlich und zeitlich unabhängig. Zum einkaufen besuchen sie ständig geöffnete Webshops, parallel chatten sie mit ihren Freunden und hören ihre bevorzugte Radiosendung als Podcast, weil sie sie morgens verpasst haben (vgl. ebd.: 65). Der Alltag wird nicht mehr den Medienangeboten angepasst, die Medienangebote lassen sich dem Alltag anpassen. Das Internet ist allzeit und durch mobile Endgeräte überall verfügbar. Mit Hilfe von digitalen Festplattenrekordern stellt man sich das eigene Fernsehprogramm zusammen. Fernsehsendungen lassen sich sogar zeitversetzt abspielen. Zeitforscher sprechen von der polychronen Zeitordnung (vgl. Neverla 2007: 44). Durch technische und wirtschaftliche Entwicklungen sowie der Aneignung des Mediums Internet hat sich also scheinbar eine neue Zeitvorstellung etabliert. Wobei die Wechselseitigkeit dieses Prozesses beachtet werden muss. Die Kommunikatoren produzieren Medieninhalte auf Basis der zeitlichen Bedürfnisse der Rezipienten, diese wiederrum passen ihre Zeitstrategien den Medienangeboten an. Technologisch bietet das Medium Internet
orts- und zeitunabhängige Inhalte. Die Inhalte haben keinen Anfang und kein Ende und machen auch keine Pausen. Aber auch das Fernsehen ermöglicht bereits seit Einführung des Videorekorders zeitsouveränes Medienhandeln. Polychrone Elemente lassen sich auch im Angebot von Radiosendern entdecken, die Sendungen als Podcasts online stellen und den Rezipienten damit eine von der Programmstruktur abweichende Nutzung anbieten (vgl. Neverla 2007: 46).

Die Entwicklung einer polychronen Zeitvorstellung resultiert aus dem Bedürfnis der Menschen, sich „die Zeit zurückzuerobern.“ (Fürstenberg/Mörth 1986: 53) Mit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft wird das Individuum, als Mitglied verschiedener Funktionsbereiche, mit teilweise divergierenden Zeitansprüchen konfrontiert. Jeder Funktionsbereich beansprucht für sich den größtmöglichen zeitlichen Raum. Als Ergebnis wird Zeit als knapp empfunden und Zeitsouveränität zum obersten Ziel. Ein Leben nach einer polychronen Zeitvorstellung ermöglicht dabei zwar zeitsouveränes Handeln, erfordert aber auch ein hohes Maß an selbständigem Zeithandeln. Es gilt das individuelle Zeitmuster mit anderen zu vereinbaren. Es besteht die Gefahr, den Anschluss an andere in verschiedenen Lebensbereichen zu verlieren. Bei Heimarbeit verliert man eventuell den Anschluss an die Kollegen oder bei einem antizyklischen Tagesablauf den Anschluss an die Freunde oder die Familie. Zudem etablieren sich durch die Überall- und Allzeiterhältlichkeit von Medieninhalten neue Kommunikationsnormen, die wiederrum das Gefühl der Zeitknappheit noch verstärken können. Eine direkte Reaktion auf E-Mails wird erwartet, die Chatkommunikation lässt kaum Zeit zwischen Aktion und Reaktion und durch mobile Endgeräte wird auch das Arbeiten ortsunabhängig (vgl. Schatter 2008: 65).

Quellen:

Beck, Klaus (1994): Medien und die soziale Konstruktion von Zeit. Über die Vermittlung von gesellschaftlicher Zeitordnung und sozialem Zeitbewußtsein. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib; eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. Univ., Habilitationsschrift der Universität München. München: Verlag Ölschläger.

Neverla, Irene (2007): Medienalltag und Zeithandeln. In: Röser, Jutta (Hg.): MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien. Wiesbaden: VS, 43-53.

Schatter, Günther (2008): Zeitsouveränität und elektronische Medien. Das Programm und seine schrittweise Selbstauflösung. In: 11. Buckower Mediengespräche 12.-13. Oktober 2007, S. 53–66.

Fürstenberg, Friedrich/Mörth, Ingo (1986): Zeit als Strukturelement von Lebenswelt und Gesellschaft. Linz: Universitätsverlag Trauner.

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