Technikkritik bei Günther Anders



Die technische Revolution ist ein Tunnel, in dem man nicht umkehren kann und gegen dessen Ende hin, da er wenig geradlinig verläuft, die Dunkelheit und mit ihr die Angst wächst.“ (Sonnemann 1985: 182)


Während die industrielle Revolution gegen Ende des 18. und im Laufe des 19. Jahrhunderts dazu beitrug, menschliche Muskelkraft mehr und mehr durch Maschinen zu ersetzen, ermöglichte die digitale Revolution im 20. Jahrhundert durch die Erfindung von Computer und Internet, Leistungen des menschlichen Gehirns an Computer zu delegieren.

Technologische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, wie Gentechnik, Kernenergie und Atombombe, befähigen den Menschen in neuen Dimensionen zur Gestaltung der Welt, in der er lebt. Technologische Errungenschaften prägen das menschliche Leben auf allen Ebenen, Technik wird bei der Arbeit, zur Informationsbeschaffung, in der Verwaltung, in der Erziehung, in der Pflege, in Kriegen genutzt. Angesichts dieser Omnipräsenz von Technologien ist zu fragen, inwiefern diese Einfluss auf menschliche Bewusstseinsformen nehmen, inwiefern sie unser Denken prägen, und welche Konsequenzen daraus entstehen könnten.

Der Soziologe Georg Simmel geht davon aus, dass die technische Prägung der Gesellschaft die psychische Verarbeitungskraft des Menschen übersteigt: „Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbstständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußeren Kultur und Technik des Lebens zu bewahren.“ (Simmel 1995: 116) Der Philosoph Günther Anders nennt diese Überforderung die „prometheische Scham“ des Menschen angesichts der Maschine: Er spricht von einem „Gefälle“ zwischen der Unvollkommenheit des Menschen und der zunehmenden Perfektionierung von Maschinen und bürokratischen Funktionsweisen, das vom Menschen physisch und psychisch nicht mehr verarbeitet werden kann. Der Mensch kann mehr herstellen, als er sich vorstellen und als er verantworten kann (vgl. Anders 1956: VII). In Bezug auf das „prometheische Gefälle“ und diesen Mangel an Vorstellungskraft spricht Anders von der „Antiquiertheit des Menschen“ - die menschliche Daseinsform scheint angesichts der Vielzahl verschiedenster Maschinen überflüssig geworden zu sein. Hinzu kommt der Mangel an Vorstellungskraft; die „Apokalypseblindheit“ des Menschen. Anders geht davon aus, „[...] dass mit steigender Effektgröße unser Vorstellungs- und Verantwortungsvermögen abnimmt […] und dass heute keiner von uns aus dem Geltungsbereich dieses Gesetzes herausfällt.“ (Anders 1964: 32)

Die Technik ist für Anders nicht neutral, sondern durch die ökonomischen Verhältnisse geprägt. „Sie ist kein bloßes Werkzeug mehr, sondern gesellschaftlicher Co-Akteur und auf allen Ebenen präsent.“ (Degele/Dries 2005: 128) Sie beeinflusst die Wahrnehmung des Menschen durch die auf Technik basierenden Medien, die zu einsamen „Masseneremiten“ (Anders 1956: 102) gewordenen Menschen nehmen die Welt durch sie nur als „Phantom und Matrize“ (Anders 1956: 129) wahr. Sie reagieren so nur noch auf technologische Erfindungen, sie erleiden einen Verlust ihres Subjektstatus gegenüber den Maschinen. Anders spricht hier von der „Antiquiertheit“ menschlicher Freiheit „durch Abbau der Möglichkeiten, gegen die technischen Fertigangebote von Handlungsalternativen Stellung zu nehmen.“ (Anders 1980: 259) Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellt für ihn die Erfindung der Atombombe dar, die „erpresserisch“ die Handlungsspielräume der Menschen festlege (vgl. Anders 1956: 252ff.)

Jedoch betrachtet Anders die Begrenztheit der menschlichen Vorstellungskraft angesichts der Auswirkungen von Technologien wie der Atombombe keinesfalls als Rechtfertigungsmöglichkeit: „[...] [D]ass dadurch unsere moralische Niederlage automatisch besiegelt sei, […] das ist nicht wahr.“ (ebd.) Vielmehr spricht er vom Versagen der Vorstellungskraft als Möglichkeit, einen heilsamen Schock zu erleiden, der als Warnung verstanden werden kann. Welche Folgen die totale Rationalisierung der Welt durch Technik haben kann, darauf weist Anders in seinem offenen Brief an den Sohn Adolf Eichmanns („Wir Eichmannsöhne“, 1964) unter Verweis auf die industrialisierte Vernichtung von Menschen während des Holocausts hin.

Wieso aber sollte dieser Verweis für Technikkritik heute noch relevant sein? Anders konstatiert, dass wir „[o]hne [die] Heraufbeschwörung des Monströsen1, das gestern Wirklichkeit gewesen ist, […] um keinen Schritt weiter[kommen]. […] [Sie] taugt allein dann etwas, wenn wir es verstehen, sie auszunutzen und in […] die Einsicht [zu verwandeln], dass, was gestern wirklich gewesen ist, auch heute, sofern sich die Voraussetzungen dafür nicht fundamental verändert haben, möglich ist, […] dass also die Zeit des Monströsen vielleicht kein bloßes Interregnum gewesen ist.“ (Anders 1964: 18) Haben sich die Voraussetzungen aber fundamental geändert? Anders nennt zwei Gründe für das „Monströse“:

Erstens den durch das prometheische Gefälle entstandenen Mangel an Vorstellungskraft, zweitens „die Maschinen- bzw. Apparathaftigkeit unserer heutigen Welt.“ (Anders 1964: 46) Damit beschreibt er das „Prinzip der Maschinen“ (ebd.: 47), das Prinzip der Maximalleistung, das die Welt durch und durch prägt. Der Konstruktionsplan von Maschinen jedweder Art impliziert das Ziel, deren Leistung zu maximieren. Damit das geschehen kann, muss es, so Anders, eine Umwelt geben, die den Maschinen zuarbeitet bzw. ihre Wartung durch Konsum ihrer Produkte mitfinanziert. Die Maschinen streben danach, einen möglichst großen Teil dieser Umwelt für sich zu erobern. Ihr letztendliches Ziel ist dabei die „Totaleroberung“ ihrer Umwelt (vgl. ebd.: 49), die mit der Vernichtung alles Menschlichen, Natürlichen, d. h. alles „Nicht-Maschinellen“ einhergeht. Konsequenz wäre, so Anders, eine Welt, die nur noch aus Maschinen besteht, die aufeinander angewiesen sind, um weiter zu existieren – die Welt wäre in diesem Fall eine einzige große Maschine, bestehend aus vielen Maschinenteilen. Dieses „technisch-totalitäre Reich“ (ebd.: 53) sieht Anders Mitte der 1960er Jahre nahen – auch wenn es bisher nicht eingetreten ist, so sind doch einige seiner damaligen Voraussagen zutreffend: „[...] das Maschinenreich akkumuliert, […] der Umfang der morgigen Welt [wird] global und damit lückenlos sein [...]“ (ebd.: 54). Als Beweis für die Richtigkeit seiner These vom maschinellen Totalitarismus führt Anders die zunehmende atomare Rüstung an: Für die Angestellten in der Atomindustrie gelte, dass sie ihre Funktionen deshalb so gewissenhaft durchführten, weil „sie in sich selbst nichts anderes mehr sahen, als Stücke einer Maschine; […] weil sie ,Häftlinge' ihrer Spezialaufgaben, also durch viele Wände vom Endeffekt getrennt, blieben; weil sie durch dessen enorme Größe unfähig gemacht waren, ihn sich vorzustellen [...]“ (ebd.: 55). Die kapitalistische Arbeitsteilung trägt dazu bei, dass „wir […] dazu verurteilt sind, uns auf winzige Stücke des Gesamtprozesses zu konzentrieren“ (ebd.: 46), sodass wir den Blick für den Gesamtprozess und vor allem für seine Effekte verlieren. Darin sieht Anders die Gefahr der technisierten Welt: „Die industrielle Leichenproduktion der Konzentrationslager wurde analog zu ziviler Büro- und Fabrikarbeit organisiert, arbeitsteilig differenziert, technisiert sowie über ein weit verzweigtes Netz von wechselseitigen Abhängigkeiten und Befehlsketten abgesichert, in der Absicht, den monströsen Vorgang moralisch weitgehend zu neutralisieren.“ (Degele/Dries 2005: 144) Auf Grund jener Arbeitsteilung sind die Menschen nur noch Rädchen in dem Apparat, zu dem Anders zufolge die Welt durch die Maschinen geworden ist. Jede_r kann so zu Eichmann werden, so Anders' These.

Anders' Technokratie-Kritik geht einher mit der geschichtsphilosophischen Betrachtung der Kritischen Theorie, die ebenfalls ein „Missverhältnis zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt auf der einen und Entfremdung, politischer Unterdrückung, Verlust der Werte […] auf der anderen Seite“ (Hubig 2000: 162) betrachtet, und so die technologische Entwicklung nicht zwangsläufig mit der Entwicklung hin zu einer besseren Gesellschaft gleichsetzt. Welche gesellschaftlichen Konsequenzen technokratisches Denken haben kann, wird in Theodor W. Adornos Aufsatz „Kultur und Verwaltung“ deutlich, in dem er Kultur als das bezeichnet, was „der nackten Notdurft des Lebens“ enthoben ist (Adorno 1972 : 124), das „über das System der Selbsterhaltung der Gattung Hinausweisende“, das „allem Bestehenden, allen Institutionen gegenüber unabdingbar ein kritisches Moment“ enthält (ebd.: 131). Dieses aber entfällt, wenn das Leben maschinell organisiert wird: Nur die Idee, der ein direkter Zweck für die Funktionsfähigkeit des Ganzen zugewiesen werden kann, die also verwertbar ist, kann unter der Herrschaft der instrumentellen Vernunft und ihrer Verwaltungspraktiken Bestand haben. Verwaltung bedeutet reibungslose Zusammenfassung aller Elemente in einen monolithischen Block, denn „um so fester gefügt sie [ist], umso größer die Aussicht, anderen gegenüber sich durchzusetzen“ (ebd.: 125). Reibung bedeutet Kritik, und „Kritik stirbt […] ab, weil der kritische Geist in jenem Ablauf [...] stört wie Sand in der Maschine. Er erscheint antiquiert […]“ (ebd.: 138), ebenso wie der Mensch an sich bei Anders den Maschinen und den durch sie ermöglichten Effekten gegenüber antiquiert erscheint. Im unübersichtlichen Ganzen der verwalteten Welt sind „[...] die Manager kaum weniger Sündenböcke als die Bürokraten […].“ (ebd.: 133) Adorno warnt vor der „,anwachsenden organischen Zusammensetzung der Menschen' – davor, dass in ihnen selbst der Anteil der Apparatur gegenüber dem Spontanen ähnlich sich ausbreitet wie in der materiellen Produktion […].“ (ebd.: 137) Die technokratischen Verwaltungspraktiken, die dazu führen, basieren auf der technologischen Entwicklung; Technik ist Werkzeug der Unterdrückung, sie trägt zur Entfremdung des Menschen von sich selbst bei: Die „hochtechnisierte ,fortgeschrittene Industriegesellschaft' ist das höchste Stadium der Entfremdung des Menschen von sich selbst – nämlich eine Entfremdung, die nicht mehr als solche empfunden, sondern in Identifikation mit den Verhältnissen, wie sie sind, neutralisiert wird.“ (Holz 2000: 255)


Anders fordert, der Mensch müsse seinen Subjektstatus gegenüber der Maschine zurückgewinnen, und wünscht sich eine Reflexion der möglichen Folgen von Technik und ihrer Zerstörungskraft in Form atomarer oder ökologischer Katastrophen. Diese Reflexion wiederum ist nur möglich, wenn es dem Mensch gelingt, eine „moralische Phantasie“ zurückzugewinnen, die hilft, ein Gespür für die nicht auszumalenden Folgen solcher Katastrophen zu entwickeln. Um die Folgen der durch Arbeitsteilung verursachten Isolation zu verhindern, schlägt Anders folgenden Eid vor:

[Ich schwöre] keine Arbeiten anzunehmen oder durchzuführen, ohne diese zuvor darauf geprüft zu haben, ob sie direkte oder indirekte Vernichtungsarbeiten (sind); [und] die Arbeiten, an denen wir gerade teilnehmen, aufzugeben, wenn diese sich als solche direkten oder indirekten Vernichtungsarbeiten erweisen sollten.“ (Anders 1986: 137)

Weiterhin kann es als notwendig erachtet werden, zu erkennen, dass die abstrakte, losgelöste Arbeit, die der_die Einzelne innerhalb des arbeitsteiligen Systems verrichtet, „wie noch die abenteuerlichste kybernetische Maschine, auf lebendige Subjekte [zurückweist]“ (Adorno 1972: 145). Wer sich also die „moralische Phantasie“ bewahrt, diese lebendigen Subjekte nicht zu vergessen, und wer sich der Dialektik der technischen Hilfsmittel bewusst ist und sich ihrer „[…] unbeirrbar, kritisch bewusst bedient, vermag stets noch etwas vom dem zu realisieren, was anders wäre als bloß verwaltete Kultur.“ (Adorno 1972: 146)

C. Benning


Literatur

Adorno, Theodor W. (1972): Kultur und Verwaltung. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8, Soziologische Schriften, Bd. I. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 122-146.

Anders, Günther (1956): Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. München: Beck.

Anders, Günther (1964): Wir Eichmannsöhne. Offener Brief an Klaus Eichmann. München: Beck.

Anders, Günther (1980): Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2. München: Beck.

Anders, Günther (1986): Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter. München: Beck.

Degele, Nina/Dries, Christian (2005): Modernisierungstheorie. München: Wilhelm Fink.

Christian Fuchs (2002): Zu einigen Parallelen und Differenzen im Denken von Günther Anders und Marcuse, In: Röpcke, Dirk/Bahr, Raimund (Hg.): Geheimagent der Masseneremiten – Günther Anders. Edition Art & Science, S. 113-127.

Holz, Hans Heinz (2000): Herbert MarcuseOne dimensional man. In: Hubig, Christoph et al. (Hg.): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie. Berlin: Ed. Sigma, S. 252-257.

Hubig, Christoph (2000): Jürgen Habermas. Technik und Wissenschaft als Ideologie. In: Ders. u. a. (Hg.): Nachdenken über Technik. Die Klassiker der Technikphilosophie. Berlin: Ed. Sigma, S. 162-165.

Marcuse, Herbert (1967): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Berlin: Luchterhand.

Simmel, Georg (1995) [1903]: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sonnemann, Ulrich: Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen. Frankfurt am Main: Taschenbücher Syndikat / EVA, S. 182.


1„Das Monströse“ nennt Anders die Tatsache, dass „es institutionelle und fabrikmäßige Vertilgung von Menschen gegeben hat; und zwar von Millionen. Dass es Leiter und Handlanger dieser Tätigkeiten gegeben hat […]; dass Millionen in einen Zustand gebracht und in diesem gehalten wurden, in dem sie nichts davon wussten, […] weil sie nicht davon wissen wollen durften.“ (Anders 1964: 17)

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